Stephan Heym, 4. November 1989, Berlin:
„Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muss unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut.“
Vor dreißig Jahren hat Stephan Heym diese Worte auf dem Alexanderplatz gesprochen. Sie standen in Zeichen einer Revolution, die ein autokratisches Herrschaftssystem hinwegfegte. Nach Jahren des Miefs, der Dumpfheit, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, wie Heym zu Beginn seiner Rede sagte, wehte auf einmal ein frischer Wind durch das Land der Deutschen. Und das galt nicht nur für den östlichen Teil. Ein paar Tage später bröckelte die Mauer dahin. Leben wurden verändert; Menschen kamen zusammen; Grenzen wurden überwunden.
Man muss sich erinnern (wenigstens ab und zu, denn das gibt Orientierung für die Gegenwart): Eine Mauer durchzog das deutsche Land, mit Stacheldraht, Tretminen, Schießbefehl. Sie teilte in jene da im Westen und jene da im Osten. Und sie tötete. Mindestens 140 Menschen starben alleine in Berlin an diesem inhumanen Grenzstreifen. Gedacht war er als antifaschistischer Schutzwall, mauerte aber die Menschen in der DDR ein, und das nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Unfrei waren alle, die hinter der Mauer leben mussten. Denn eine Mauer hat immer zwei Seiten: eine, die abgrenzt nach außen, und eine, die einsperrt nach innen.
Die DDR war das, was man eine geschlossene Gesellschaft nennen kann. Keine Migration, weder raus noch rein; eine Partei, die alles bestimmte, die sagte, wohin das Leben von Millionen sich zu entwickeln hat. Dahinter stand eine Ideologie, die meinte, dass alles nach einem Plan verlaufen soll. Die Geschichte würden nach Gesetzen verlaufen, denen man zu folgen hat. Wer so redete und redet, meinte stets Unfreiheit der vielen und die Herrschaft der wenigen, die den geheimen Plan kennen. Das Ergebnis war immer eine Willkürherrschaft, der dieser Mief, diese Dumpfheit und diese Humorlosigkeit folgten, und dann auch körperliche Verletzungen, Gefängnis und in letzter Konsequenz Tod. Doch am Ende bröckelt alles, was zu starr ist; wird alles weggefegt, was sich gegen das Leben richtet. Denn Freiheit und Leben sind stärker und brechen auch harten Stein.
Eine Gesellschaft muss offen sein, nach innen und nach außen. Nur eine offene Gesellschaft kann sich entwickeln und dem Leben folgen. Eine offene Gesellschaft hat keine Grenzen. Das heißt auch Migration, denn sie steht für Wandel und Erneuerung. Eine offene Gesellschaft ist pluralistisch und demokratisch. Sie kann nicht am Reißbrett von potentiellen Diktaturen entworfen werden, sondern entwickelt sich evolutionär in einem ständigen Prozess von Versuch und Irrtum. Dabei kann auch mal alles nicht gut laufen. Bürokratische Verkrustungen können auch in einer offenen Gesellschaft entstehen. Aber die Demokratie sichert durch freie Abstimmung, dass die verschwinden, die Willkür wollen. Wahlen verändern, wenn eine Mehrheit Veränderung will.
Doch Demokratie fordert Teilnahme. Freiheit verflüchtigt sich, wenn sie nicht ausgeübt wird. Und sie muss ständig verteidigt werden. Demokratie und Freiheit erlauben nicht, dass man sich zurücklehnt und auf andere schaut. Eine offene Gesellschaft birgt in sich die Gefahr, dass sich eine Mehrheit gegen die Freiheit wendet. Dann kommen wieder die, die Grenzen fordern und Mauer wiedererrichten wollen. Die, die den Mief und die Dumpfheit zurückhaben wollen, weil sie mit Veränderung nicht leben können. Darum ist fehlende Teilnahme undemokratisch.
Am Ende seine Rede sagte Stephan Heym: „Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes. Freunde, Mitbürger! üben wir sie aus, diese Herrschaft.“